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„Schreie und Stöße“ im Parlament, nächster Minister-Rücktritt – Truss wirft im Chaos das Handtuch

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Von: Florian Naumann

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Im britischen Unterhaus rang Liz Truss um ihre politische Zukunft. Vorerst mit Erfolg. Doch die Kritik schlägt hohe Wellen – mehrere Termin für ihr Aus machen die Runde.

Update vom 20. Oktober, 15.18 Uhr: Am Ende ging es schnell: Nach nur sechs Wochen im Amt hat die britische Regierungschefin Liz Truss ihren Rücktritt erklärt. „Angesichts der Situation erkenne ich an, dass ich das mir von der konservativen Partei übertragene Mandat nicht erfüllen kann“, erklärte sie am Donnerstag vor ihrem Regierungssitz in London.

Truss geht damit als Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte des Königreichs ein. In den nur sechs Wochen an der Regierungsspitze hatte sie zunächst mit umstrittenen Steuersenkungsplänen für Turbulenzen an den Finanzmärkten gesorgt. Daraufhin wechselte sie ihren Finanzminister aus und legte eine finanzpolitische Kehrtwende hin. Am Mittwoch trat dann auch noch ihre Innenministerin zurück, eine chaotische Abstimmung im Unterhaus am Abend sorgte für zusätzlichen Druck. Auch in den Reihen ihrer eigenen Partei waren die Rufe nach ihrem Rücktritt immer lauter geworden.

Die parteiinterne Wahl ihres Nachfolgers an der Spitze der Partei - und damit des Premierministers - soll laut Truss bis kommende Woche stattfinden.

Truss und Großbritannien im Chaos: „Schreie und Stöße“ im Parlament, nächster Minister-Rücktritt

Update vom 20. Oktober, 8.00 Uhr: Nach einer dramatischen Nacht in Westminster ist die Lage der britischen Premierministerin Liz Truss prekärer denn je. Die konservative Regierungschefin hatte am Mittwoch mit dem Rücktritt von Innenministerin Suella Braverman ihr zweites Kabinettsmitglied innerhalb weniger Tage verloren. Bei einer Abstimmung im Unterhaus später spielten sich chaotische Szenen ab, in der Truss und die Regierung weiter an Autorität einbüßten.

Braverman nutzte ihr Rücktrittsschreiben für eine Abrechnung mit der Premierministerin. Wichtige Versprechen an die Wähler seien gebrochen worden. Sie habe auch „große Bedenken hinsichtlich des Bekenntnisses dieser Regierung zu unserem Wahlprogramm, wie die Gesamtzahl der Einwanderer zu begrenzen und illegale Migration zu stoppen, besonders die gefährlichen Bootsüberquerungen“, schrieb Braverman. Erwartet wurde, dass die Ex-Innenministerin bei einer Wortmeldung im Parlament am Donnerstag noch einmal nachlegen will.

Truss verliert Ministerin – Braverman rechnet in Rücktrittsschreiben ab

Braverman gehört zum extremen rechten Flügel der Partei. Sie machte immer wieder mit Äußerungen zu ihren Plänen für ein härteres Vorgehen bei Abschiebungen von sich reden. Kürzlich wetterte sie im Parlament gegen „Tofu essende“ Linke. Als Nachfolger berief Truss den früheren Verkehrsminister Grant Shapps, der noch vor kurzem zu ihren Gegnern gehört hatte. Als Grund für ihren Rücktritt gab Braverman „einen technischen Bruch“ von Geheimhaltungsregeln an. Sie habe ein offizielles Dokument von ihrer persönlichen E-Mail-Adresse an einen „vertrauten parlamentarischen Kollegen“ weitergeleitet, schrieb Braverman.

Dem Trubel um Braverman folgten chaotischen Szenen im Parlament, wie es sie selbst zur Zeit des Brexit-Streits unter Ex-Premierministerin Theresa May nicht gegeben hatte. Den Rahmen dafür bot die Abstimmung über einen von der oppositionellen Labour-Partei eingebrachten Antrag, der den Weg zu einem Fracking-Verbot ebnen sollte.

Truss vor dem Aus? Hickhack um Vertrauensfrage im Parlament – „Schreie und Stöße“

Die Regierung hatte die Abstimmung zunächst zur Vertrauensfrage deklariert, bevor sie kurz vor Beginn der Stimmabgabe wieder zurückruderte. Der Labour-Antrag wurde zwar mit großer Mehrheit abgelehnt, doch viele konservative Abgeordnete sollen nur äußerst widerwillig gegen den Vorstoß gestimmt haben. Es gab auch eine ganze Reihe von Enthaltungen.

Übereinstimmenden Berichten zufolge sollen die für die Einhaltung der Fraktionsdisziplin zuständige Chefeinpeitscherin (Chief Whip), Wendy Morton, und ihr Stellvertreter Craig Whittaker zunächst aus Frust über die Kehrtwende der Regierung bei der Frage, ob die Abstimmung als Vertrauensfrage gelte, hingeworfen haben. Später teilte der Regierungssitz Downing Street mit, beide seien weiterhin im Amt.

Der Labour-Abgeordnete Chris Bryant und weitere Oppositionsmitglieder erhoben außerdem den Vorwurf, konservative Abgeordnete seien teilweise mit „Schreien und Stößen“ in eine bestimmte Richtung gedrängt worden und hätten nicht frei und ungehindert wählen können. Unter anderem der Guardian berichtete über die Vorwürfe eines Tory-Hinterbänklers.

Truss vor bizarr kurzer Amtszeit? Mehrere brisante Termine kursieren – auch Torys zweifeln

Liz Truss unter Druck: Die britische Premierministerin am Mittwoch im Unterhaus.
Liz Truss unter Druck: Die britische Premierministerin am Mittwoch im Unterhaus. © House Of Commons/dpa

Erstmeldung: London – Liz Truss droht eine nahezu grotesk kurze Amtszeit als britische Regierungschefin: Schon sechs Wochen nach ihrer Ernennung droht der Konservativen das Aus. Im Unterhaus hat sich die Tory-Politikerin aber am Mittwoch (19. Oktober) einmal mehr gegen Vorwürfe und Rücktrittsforderungen verteidigt. „Ich bin eine Kämpferin und keine Drückebergerin,“ sagte Truss dort.

Vorausgegangen war eine provokante Frage von Oppositionsführer Keir Starmer: Er hatte sich erkundigt, warum Truss überhaupt noch da sei. Auf dem Programm stand im House of Commons die erste Fragestunde mit der Premierministerin im britischen Unterhaus nach ihrer demütigenden Kehrtwende bei den Steuerplänen vergangene und Anfang dieser Woche.

Großbritannien: Aufregung um Truss im Unterhaus – Oppositionschef Starmer spottet herzhaft

Die konservative Regierungschefin geriet bei der Sitzung schwer unter Druck. Mehrere Oppositionspolitiker forderten sie direkt zum Rücktritt auf. Vorwürfen, sie habe die Wirtschaft des Landes an die Wand gefahren, trat Truss mit der Feststellung entgegen, die wirtschaftliche Lage sei allgemein schwierig. Sie forderte Starmer auf, den „wirtschaftlichen Realitäten ins Auge zu sehen“ – dafür erntete sie Häme und wütende Zwischenrufe von den Oppositionsbänken.

Starmer hatte allerdings gleich mehrere Spitzen parat. „Es wird gerade ein Buch über die Amtszeit der Premierministerin geschrieben. Offenbar soll es schon an Weihnachten erscheinen“, spöttelte der Labour-Politiker. Oder auch: „Letzte Woche stand die Premierministerin hier und hat keinerlei Einschnitte bei den Ausgaben versprochen. Diese Woche verkündet der Schatzkanzler eine neue Kürzungswelle. Was hat es mit einer Premierministerin auf sich, deren Versprechungen nicht einmal eine Woche halten?“

Truss „übersteht den Tag“ – doch auch Torys setzen Ultimatum: Zwei Termine für ein Aus kursieren

Erspart blieb der schwer in die Defensive geratenen Regierungschefin immerhin Kritik aus den eigenen Reihen. Spekulationen, sie könne sich die Loyalität der Brexit-Hardliner mit einer harten Linie gegenüber Brüssel im Streit um den Status für Nordirland erkauft haben, schienen sich zunächst zu bestätigen. Truss versicherte auf Nachfrage eines Abgeordneten, sie wolle an einem Gesetzentwurf festhalten, mit dem die als Nordirland-Protokoll bezeichnete Abmachung aus dem Brexit-Vertrag ausgehöhlt werden soll.

Allerdings machten einzelne Abgeordnete noch am Nachmittag Druck. Der Tory-Abgeordnete Steve Double erklärte in der BBC-Sendung „World at One“, Truss habe bis Ende nächster Woche (28. Oktober) Zeit, ihre Parteifreunde von sich zu überzeugen. Ein weiterer Tory-Parlamentarier, Nigel Mills, forderte in der Sendung, die Regierung müsse nun „ihre Hausaufgaben erledigen“. Fraktionskollegin Miriam Cates wollte sich im Sender GB News nicht festlegen, ob Truss bei der nächsten Wahl noch Parteichefin sein werde. Labour hat aktuell einen komfortablen Vorsprung in den Umfragen. William Wragg, ein Hinterbänkler der Konservativen, reichte laut einem Bericht des Telegraph gar bereits einen „letter of no confidence“ ein.

Der Guardian nannte als einen weiteren brisanten Termin Montag, den 31. Oktober. Dann stünden ein Zwischen-Haushaltsplan und eine Wirtschaftsprognose an. Bis dahin könnten die Parlamentarier Zurückhaltung walten lassen, um die Wirtschaft nicht weiter zu verunsichern, hieß es.

Das Blatt urteilte in einer ersten Analyse zudem, Truss habe am Mittwoch „genug getan, um den Tag zu überstehen“. Das sei nach einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag – bei der die Premierministerin „schwach und gebrochen“ gewirkt habe – nicht zwingend zu erwarten gewesen. „Für die nächsten paar Stunden ist ihre Position vermutlich gesichert“, lautete das Verdikt der Zeitung.

Truss unter Druck: Premierministerin entlässt Kommunikationschef vor heikler Sitzung

Truss ist erst seit Anfang September im Amt. Dennoch steht sie bereits massiv auch in ihrer eigenen konservativen Tory-Partei unter Druck. Ihr Steuersenkungspaket hatte wegen fehlender Gegenfinanzierung zu Turbulenzen an den Finanzmärkten und zu heftigem Unmut auch in den Reihen der Regierungspartei geführt.

Daraufhin ließ Truss zunächst ihren Vertrauten, den damaligen Finanzminister Kwasi Kwarteng, die geplante Steuersenkung für Spitzenverdiener zurücknehmen. Am Freitag entließ sie ihn dann. Der neue Finanzminister Jeremy Hunt kippte das geplante Finanzpaket am Montag fast vollständig. Starmer warf Truss am Mittwoch vor, „ein wirtschaftliches Experiment an der britischen Öffentlichkeit“ vorgenommen zu haben.

Kurz vor Beginn der Fragestunde wurde bekannt, dass Truss‘ Kommunikationschef Jason Stein suspendiert und ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Berichten zufolge hatte er sich Journalisten gegenüber despektierlich über einen früheren Minister geäußert. Der soll gedroht haben, das Thema bei der Fragestunde im Parlament zur Sprache zu bringen. Das wollte Truss wohl nicht riskieren. (dpa/fn/AFP)

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