Expertin übt Kritik: „Long Covid spielt für Politiker offensichtlich keine große Rolle“

Auch nach Omikron kann man Long Covid bekommen, warnt Jördis Frommhold. Im Interview sagt die Expertin, wie man sich schützt – und was die Politik falsch macht.
Heiligendamm – Viele Menschen, die zu Jördis Frommhold in die Klinik kommen, sind verzweifelt. Sie leiden an den Langzeitfolgen von Corona – auch nach Omikron. Frommhold hat einen Soldaten gesehen, der die Treppe nicht mehr hochkommt. Ein Model, dem die Haare ausfallen. Und 20-Jährige, die nicht mehr aus dem Bett kommen, nicht zur Arbeit oder Uni gehen können – von Partys ganz zu schweigen.
Long Covid nach Omikron: Expertin warnt – „Auch 20-Jährige kriegen noch Langzeitfolgen“
Die Ärztin gilt als die deutsche Long-Covid-Expertin, berät auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Seit Jahren hat sie das Gefühl, „hinter den Politikern hinterherzuräumen“, wie sie im Interview mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA erklärt. Denn wenn es die Politik nicht schafft, die Corona-Zahlen zu drücken, erkranken immer mehr Menschen auch nach einer Infektion mit Omikron an Long Covid. Und die kommen dann zu Frommhold in die Praxis. 5000 Patienten hat sie bislang betreut – von geschätzt über einer Million Betroffenen in Deutschland.
Derzeit gibt es fast keine Corona-Maßnahmen mehr, das Infektionsschutzgesetz läuft am 23. September aus – und das alles trotz Corona-Sommerwelle und steigender Inzidenzen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erwartet einen schweren Herbst. Warum bekommen immer noch so viele Menschen Long Covid? Darunter viele junge Menschen – denn „auch 20-Jährige kriegen Langzeitfolgen“. Wie kann man das verhindern? Und wie wird es weitergehen?
Expertin nicht im Corona-Expertenrat: „Long Covid spielt für Politiker offensichtlich keine große Rolle“
Sie beraten als Long-Covid-Expertin die Bundesregierung, sind aber nicht im Corona-Expertenrat. Warum eigentlich nicht?
Jördis Frommhold: Das frage ich mich auch (lacht).
Wurden Sie nicht gefragt?
Nein. Long Covid spielt bei der Planung der Politiker offensichtlich noch keine so große Rolle - auch wenn sich natürlich hinsichtlich der Akzeptanz schon etwas getan hat. Aber dennoch: Über Langzeitfolgen bei Corona wird nach wie vor zu wenig gesprochen. Doch in Zukunft werden wir viele Ausfälle im Berufsleben wegen Long Covid haben. Damit muss man planen. Hunderttausende Menschen sind betroffen. Und es werden immer mehr.
Sie sehen auch viele Junge unter Long Covid leiden. Sind Sie nicht sauer, wenn Sie sehen, die Bundesregierung bekommt es schon wieder nicht hin, für den Herbst vorzusorgen?
Manchmal habe ich schon das Gefühl, hinter den Politikern hinterherzuräumen. Sich darüber aufzuregen, hab ich mir abgewöhnt. Da kriegt man nur selbst Magengeschwüre.
Was sagen Sie zu den derzeitigen Lockerungen?
Ich verstehe, dass man nicht mehr mit vielen Verboten arbeiten kann. Doch wenn man Regeln lockert, muss man die Menschen darüber aufklären, was es bedeutet, wenn man Corona oder Long Covid bekommt. Sonst suggeriert man den Leuten: ‚Jetzt ist alles so wie früher.‘ Das darf auf keinen Fall passieren.
Wie könnte so eine Aufklärung aussehen?
Man muss auch mal schockierende Beispiele bringen, um die Menschen wachzurütteln. Etwa so: ‚Diese junge Frau ist 22 und kommt nicht mehr aus dem Bett. Sie muss ihr komplettes Leben umstellen auf absehbare Zeit, nichts ist mehr so wie vorher.‘ Es gibt viele traurige Beispiele bei Long Covid. Auch nach Omikron. Das ist schon schockierend – und die Menschen werden vielleicht wieder vorsichtiger, wenn sie das mitbekommen.

Long Covid: Expertin fürchtet Langzeitfolgen auch nach Omikron – Junge haben keine Kraft mehr
Obwohl derzeit die Todeszahlen bei Corona wieder steigen, gilt Omikron nach wie vor als „mildere Variante“ im Vergleich zu Delta. Sind die Langzeitfolgen nach Omikron milder?
Etwas milder schon. Geruchs- und Geschmacksstörungen kommen praktisch gar nicht mehr vor, und auch ganz schwere Probleme mit der Lunge sind seltener. Auch Wortfindungsstörungen und Haarausfall sind seltener, würde ich aus dem Praxisalltag sagen. Am Anfang hatte ich Patienten, die konnten keinen ganzen Satz mehr sprechen. Aber die Fatigue, also extreme Erschöpfung und Müdigkeit, ist nach wie vor stark ausgeprägt. Im Alltag ist diese für Betroffene sehr belastend.
Bekommen auch bei Omikron noch viele junge Menschen Long Covid? 20- bis 30-Jährige?
Ja. Die hatten häufig zwar einen leichten Corona-Verlauf, leiden jetzt aber unter den Langzeitfolgen. Bei jungen Menschen ist es nach Omikron häufig so: Die schleppen sich zur Arbeit, das geht irgendwie noch. Ihre Pflichten schaffen sie noch, aber den Rest des Tages schlafen sie dann zuhause. Aber als 20-Jähriger hat man ja noch anderes vor, als nur zu arbeiten.
Eine aktuelle Studie aus England zeigt, dass bei Delta 10,8 Prozent der Corona-Patienten später Long Covid hatte – nach Omikron sind das nur noch 4,4 Prozent. Sind das gute Nachrichten?
Ja und nein. Die Sache ist die: Die Omikron-Zahlen sind gerade sehr hoch und steigen immer weiter. Also werden im Verhältnis doch sehr viele Menschen Long Covid bekommen.
Vor allem, wenn man an die neue Studie denkt, die besagt, dass es nach einer zweiten Infektion mit Corona doppelt so wahrscheinlich ist, Long Covid zu bekommen.
Ganz genau.
Long-Covid-Expertin: Mit Atemübungen vorsorgen – und beim Sport und im Job ruhig angehen lassen
In ihrem Buch „Long Covid – die neue Volkskrankheit“, über das wir bereits ein Interview geführt haben, geben Sie Tipps, was man während einer Corona-Infektion dafür tun kann, dass man kein Long Covid bekommt. Welche?
Während Corona kann man inhalieren, um die Lunge zu entlasten und zu beruhigen. Auch Atemübungen helfen. Auf vier Schläge durch die Nase einatmen, sieben durch den Mund aus. Die Ausatmung muss dabei länger sein als die Einatmung. Das ist sehr wichtig, denn die ganze alte Luft soll entweichen – damit in der Lunge wieder Platz für frische Luft ist.
Was ist mit Sport?
Nach der Infektion sollte man erst Sport machen, wenn man sich wirklich fit fühlt. Das gleiche gilt für die Arbeit. Lieber erstmal nur eine Leistung von 50 Prozent geben und am nächsten Tag schauen, wie kaputt man ist. Viele sagen sich stattdessen: ‚Das ging vorher, das muss jetzt auch gehen. Und wenn nicht, trainiere oder arbeite ich umso härter.‘ Das kann in Bezug auf Long Covid fatal sein.
Warum können die Deutschen sich nicht mal zurücklehnen. Was meinen Sie?
Das ist auch ein Problem unserer Leistungsgesellschaft. Und auch ein Problem der Abgrenzung. Auch als Mutter kann man zu Kindern sagen: ‚Du wartest jetzt mal bitte.‘ Denn wenn man sich immer wieder übernimmt, kommt der Rückschlag. Und Long Covid ist wirklich nicht schön. Also: Bitte nicht überlasten. Ich selber habe nach meiner Corona-Infektion auch Pausen eingeplant.
Medikamente fehlen: „Corona-Langzeitfolgen werden uns lange begleiten“
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Wie wird es mit Corona und Long Covid weitergehen?
Ich bekomme nach wie vor viele Anfragen und Mails. Derzeit werde ich in der Klinik der Masse an Patienten nicht gerecht. Daher werde ich ab Oktober in Rostock ein Institut eröffnen, bei dem ich Patienten auch aus der Ferne telefonisch oder per Video eine Empfehlung geben kann. Ob sie etwa zu einem Atemtherapeuten gehen sollten, oder wie sie mit ihrer Fatigue umgehen müssen. Patienten können sich schon jetzt vorab anmelden. Das Problem an den Universitätskliniken ist, dass die viel forschen, aber die Betroffenen bekommen gar keine Tipps, wie es ihnen möglichst schnell besser geht im Alltag. Sie kommen zu mir und sagen: Untersucht haben die ganz viel, aber gesagt, was ich tun soll, hat mir keiner.
Wenn Sie jetzt noch ein Institut für Long Covid eröffnen, zeigt das vor allem, dass dieses Thema noch lange nicht vorbei ist.
Davon gehe ich aus. Ich habe immer noch Patienten auf der Warteliste, die seit einem Jahr an Long Covid leiden und noch keine Beratung bekommen haben. Solange es keine Medikamente gegen Long Covid gibt, werden uns die Langzeitfolgen von Corona noch begleiten. So ist es leider.